Bei der heutigen Etappe der oekosozialen Suedtirol-Tour von Michil Costa und einiger seiner Kollegen von der Liste Gruene-BuergerListeCiviche erreichte die Radlergruppe – von Sterzing kommend – den Brenner. Die Ortschaft Brenner befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Die Staatsgrenze, die einen quirligen Handel entstehen liess und die Menschen, die als Polizisten, Zollbeamte und “Grenz”-Dienstleistende den Ort belebten, sind verschwunden. Viele Haueser stehen leer, das neue Outlet-Center – als Motor fuer die Lokalwirtschaft angepriesen – kommt nicht so recht aus den Startloechern. Brenner hat seine historische Funktion erfuellt, mit der Grenze hat der Kunstort seine Bestimmung verloren. Muss er auf Teufel komm raus belebt und aufgewertet werden? Koennte die Umstrukturierung nicht auch in die Richtung gehen, dass der Ort ganz einfach schrumpft?

Die grosse Tafel der Bewegung “Suedtiroler Freiheit”, auf der in grossen Lettern die Aufschrift “Sued-Tirol ist nicht Italien” zu lesen ist, steht immer noch auf der oesterreichischen Seite des Brenners. Die oekosoziale Radlergruppe posiert davor und gibt dem Schild die Bedeutung, die es hat: ein deutliches “na und?”. Schiesslich ist auch Sued-Tirol nicht Suedtirol, oder?

Bei der Fahrt vom Brenner herunter sticht die ubermaechtige, brutale Praesenz der Autobahn ins Auge. Alles erschlagende Betonstrukturen ohne den geringsten Hauch eines aesthetischen Anspruches haben das Wipptal zu einer Art Darm Europas gemacht, besonders im Abschnitt Brenner-Gossensass. Der enorme Viadukt der Gossensass ueberspannt, nimmt den Ort in optische Geiselhaft. Man gewoehnt sich dran. Wirklich? Kann man sich an brachiale Haesslichkeit gewoehnen, die auch noch “Kollateralauswirkungen” mit sich bringt?

Oben auf dem Viadukt sieht man den Pulsschlag einer kranken und krank machenden Wirtschaft. Alle sieben Sekunden ein LKW, 2,2 Millionen im Jahr. Kartoffeln nach Sueden, Kartoffeln nach Norden. Winfried Wolf, freier Journalist und ehemaliger Abgeordneter zum Deutschen Bundestag, hat die Warenstroeme in Europa analysiert und hat dabei festgestellt, dass enorm viele Gueter der selben Qualitaet in etwa gleich bleibenden Mengen zwischen einzelnen Laendern ausgetauscht werden. Die Menge des aus Deutschland nach Frankreich exportierten Weizens entspricht ziemlich genau der des von Deutschland aus Frankreich importierten Weizen. Aehnlich verhaelt es sich beispielsweise mit dem Austausch von Schweinefleich zwischen Frankreich und Grossbritannien. Und das sind nur zwei Beispiele fuer den energie- und ressourcenfressenden, krank machenden Transportwahnsinn. In diesen geplagten Taelern zahlen die Anwohner die Zeche fuer diese Fehlentwicklung, die hauptsaechlich den Interessen der Konzerne dient: Im Jahresmittel misst man an der Autobahn im Eisack- und Wipptal, aber auch im Unterland ueber 70 Mikrogramm Stickoxide. Das selbe in Volders und ueberall dort, wo man misst.

Kaum kommt man etwas aus dem unmittelbaren Bereich der Autobahn heraus, etwa dem neuen Radweg nach Ried folgend, bekommt man eine Ahnung davon, welch schoene Landschaft dem Verkehr geopfert wurde.

Am Schaurhof vorbei, in dem wir am Abend zuvor ausgezeichnet gegessen und mit einigen Sterzinger Wirtschaftstreibenden, Kandidatenkollegen und dem Bergfuehrer Helmut Eisendle intensiv ueber Wirtschaftsentwicklung und Tourismus diskutiert hatten, erreichen wir gegen Mittag die Fuggerstadt am Eisack.

Sterzing ist eine stolze und schoene Stadt und gleich nach der kurzen Fahrt durch den schmucken Ort bestimmt wieder die Autobahn das Geschehen – und die Milchfabriken im Sueden von Sterzing, wo Turbokuehe Silofutter fressen und “Bergbauernmilch” produzieren. Man riechts, dass hier die Natur aus dem Gleichgewicht geraten ist. Auch der Eisack ist kein Fluss hier, eher eine Wasserautobahn und nichts erinnert mehr an die wunderschoene Aulandschaft, die vor den “Meliorierungsarbeiten” das Sterzinger Moos gepraegt hat.

In Freienfeld, beim Lener, isst man gut und es ist gemuetlich bei den tuechtigen Wirtsleuten.

Dann geht die Fahrt wieder weiter, vorbei an der Baustelle fuer den Seitenangriff zum Probestollen in Mauls, der dort gerade in den Felsen getrieben wird. Er soll rund 500 Millionen Euro kosten, am Ende werden es wohl wesentlich mehr Steuermittel sein, die ueber dieses Loch auf die Konten der Baukonzerne und ihrer Hintermaenner fliessen werden. Dabei ist das Loch nur der Vorbote eines weit groesseren Vorhabens, das sich die Bau-Konzerne vorgenommen haben: der Brenner Basis Tunnel. Aus verkehrsplanerischer Hinsicht nicht begruendbar und in seinem Nutzen auch von Seiten der Betreiber nie detailliert und fundiert nachgewiesen, sollen moeglichst viele Fakten geschaffen werden. Zur Zeit liegen die geschaetzten Baukosten bei neun Milliarden Euro, ohne Finanzierungskosten – als ob die vom Steuerzahler nicht bezahlt werden muessten. Und dann fehlen noch die Zulaufstrecken bis Verona. Eine Kleinigkeit, so rund 30 Milliarden Euro sollten wir mal veranschlagen, vielleicht auch 50. Ein schoener Kuchen, die Tortenverteiler stehen schon bereit. Dass da auch mal Zuege fahren sollen und welche dies sein werden, interessiert keinen der Herren, die ihre Lebensaufgabe darin sehen, teure Loecher in den Fels zu bohren.

In Grassstein kann man ein neues Kraftwerk bewundern. Es wird Palmoel verbrennen, zwei Sattelzuege am Tag, und soll bald Strom fuer die Baumaschinen liefern. Es gehoert unter anderem Hans Wild, dem Buergermeister von Franzensfeste, der im Aufsichtsrat der BBT SE die Interessen der Suedtiroler Bevoelkerung vertreten soll. Nachdem die Landesregierung vorgeschrieben hatte, dass die Abwaerme des Kraftwerkes genutzt werden muesse und die Genehmigung fuer den Bau des Kraftwerkes davon abhaengig machte, ist der schlaue Wild auf die Idee gekommen, in fein gewaermten Wasser Stoere zu zuechten und Kaviar zu erzeugen. Suedtirol braucht unbedingt eine eigene Kaviarproduktion. Schon, um die ganzen Spatenstiche, Maschineninbetriebnahmen und van Miert-Ultimaten grosstuerisch – also landesueblich – zu begehen.

In Grassstein kann man auch die neue Schlackendeponie bewundern, gegen die der wackere Carl von Pretz mit seiner Buergerinitiative jahrzehntelang angekaempft hat – letztlich ohne Erfolg. Nun sollen dort die Schlacken aus dem Bozner Verbrennungsofen deponiert werden, womit wir wohl wieder beim Bild des Darms waeren, das einem bei der Fahrt durch dieses geschundene Tal immer wieder in den Sinn kommt. Stein und Bein hat man geschworen, dass in der neuen Deponie nur Schlacken kommen, die nicht stinken. Als wir heute vorbeifahren riechen wir ganz banalen Hausmuell und koennen Berge davon entdecken. Wieder mal ein Einileger nach Art der SVP?

Unten im Talboden hat sich etwas kostbares und natuerliches erhalten koennen. Auf den zwoelf Kilometern zwischen Mauls und Franzensfeste darf der Eisack das sein, was er wohl auf der ganzen Strecke sein moechte: Ein natuerliches Fliessgewaesser. Aber auch hier droht die Zivilisation in Form eines Grosskraftwerkes in der Naehe von Klausen. Um dort das weisse Gold zu produzieren und schoene Profite einzustreichen, soll der Eisack zum groessten Teil in Mauls abgeleitet und ueber einen langen, finsteren Stollen seiner wertschoepfenden Bestimmung zugefuehrt werden. Die Gemeinden im Einzugsgebiet des Stollens sind dagegen – auch weil sie sich um ihre Quellen sorgen, von denen gar einige oberhalb der geplanten Stollentrasse liegen.

Die selben Gemeinden haben anscheinend nichts gegen die Trassenfuehrung fuer die Zulaufstrecke zum BBT von Franzensfeste nach Waidbruck – eine der vielen Ungereimtheiten in diesem bisweilen recht bizarr verwalteten Land.

Der Radweg von Mittewald nach Franzensfest gleicht eher einem Geschicklichkeits- und Fitness-Parcour. Auf und ab fuehrt der Weg und unwillkuerlich stellt sich dem schnaubenden Radler die Frage, ob die Projektanten dieses Radweges jemals in ihrem Leben ein Rad gesehen, geschweige denn eines gezaehmt haben.

Nach Franzensfeste ahnt man den Sueden, das Tal weitet sich zur einladenden Brixner Senke, die ersten Weingaerten und Obstanlagen sauemen den Weg. Am Eisack entlang erreichen wir die alte Bischofsstadt Brixen, wo die oekosozialen Freunde am kuerzerhand in MICHILSBRUNNEN umgetauften Brunnen am Weissen Turm auf uns warten. Ein wahlkamepfendes Bad in der Brixner Menge und dann geht’s in den “Elephanten”, wo am Abend noch ein Buch ueber einen Portier aus dem Gadertal vorgestellt wird, den es nach einer ersten Station im traditionsreichen ersten Haus in Brixen in die weite Hotelwelt verschlagen hat. Ein schoener Abend in der unverwechselbaren Atmosphaere des “Elephanten” beschliesst die Etappe Sterzing-Brenner-Sterzing-Brixen.

Markus Lobis, Eisacktaler Kandidat der Grünen-Verdi-Vërc/BürgerListeCiviche, 1.10.2008