Ein Rascheln, eine schnelle Bewegung. Etwas huscht davon. Meine Schritte haben es in die Flucht geschlagen. Nur wenige Sekunden, und sein Gebell verhallt in der Ferne. Angst im Urzustand. Die Energie, die es eben verschwendet hat, kann es das Leben kosten. So unschuldig und weiß der Schnee für uns sein mag, so verflucht und grausam ist er für das Reh im Wald, der sich am Pistenrand des Boé hinzieht. Ich habe es erschreckt, vielleicht sogar zu Tode. Wie dumm ich doch gewesen bin.

Das Reh ist ein zartes Wesen, ohne die kräftigen Muskeln des Hirschs, dafür mit einem Feinschmeckergaumen ausgestattet, der ihm gerade mal das Knabbern an Laubbäumen erlaubt – nicht genug, um satt zu werden. Heu ist keines da. Das Reh muss sich schonen, bei der Kälte in diesen Tagen könnte jede unbedachte Bewegung es zu Adlerfutter werden lassen. Meine Vergnügungstour in die Berge hat sein Überleben in Gefahr gebracht. Ich knie im Schnee nieder; respektlos war ich, bin in sein Zuhause eingedrungen. Es tut mir leid.

Bewegungslos knie ich unter zwei großen Lärchen im Schnee und kann mein schlechtes Gewissen kaum beruhigen. Doch in diesem Moment sehe ich, mehr aus den Augenwinkeln, aus einem halb von Schnee bedeckten, mannshohen Felsblock ein Dampfwölkchen aufsteigen. Ruckartig drehe ich mich um und fühle mich kurz wie verfolgt. Eigentlich möchte ich weg von hier, doch dann rücke ich näher an den Felsen heran. Ich fühle mich beobachtet. Ganz still ist es. Ich trete einen Schritt zurück und sehe nach oben: Die beiden Lärchen wiegen sich langsam, kommentieren das seltsame Subjekt mit den Entenfüßen, das da unter ihnen im Schnee kniet. Ein wenig verlegen ziehe ich meine Schneeschuhe aus und mache mir daraus einen Sitz. Viel Zeit vergeht. Eine Stunde, vielleicht auch mehr. Es fängt zu schneien an. Ich fixiere den großen Felsbrocken, da passiert es wieder: ein Ausatmen. Diesmal täusche ich mich nicht. Ich stehe auf und stecke meine Nase dorthin, wo das Wölkchen aufgestiegen ist. Nichts. Gar nichts ist da. Ich nähere mich mit dem Ohr, atme kaum noch. Ein Gefühl wie in “Wolfsblut und der Ruf der Wildnis”. Ich warte ab, geduldig und still. Eine weitere Stunde vergeht, mindestens. Bis mich ein kaum wahrnehmbarer Hauch aufschreckt. Ich ziehe den Kopf zurück, gucke, berühre, schnüffele. Nichts. Wieder gehe ich mit dem Ohr heran, diesmal mit dem anderen. Doch alles bleibt still.

Inzwischen zittere ich vor Kälte. Ich schnalle die Schneeschuhe wieder an und werfe noch einen Blick auf die zwei Lärchen, die sich mir entgegenneigen. Sie lächeln über meine Nicht-Wahrnehmung, über meine verstopften Sinne, die so wenig empfangen, lächeln über den Mensch ohne Instinkt. Auf dem Weg zurück sehe ich ein Reh, es muss dasselbe sein wie vorher. Es steht bei einer kleinen Tanne, vielleicht 20 Meter entfernt, unbeweglich diesmal, und beobachtet mich. Auf einmal verstehe ich: Eine Zeit lang hat die Natur mich in sich aufgenommen. Hat dafür gesorgt, dass ich die Felsen atmen sehen konnte. Normalerweise können wir, die wir ein so kurzes Leben haben, ihr Leben gar nicht wahrnehmen. Doch auch wir sind Natur, und einen Moment lang habe ich es am eigenen Leibe gespürt.

Und im Grunde reicht mir diese Wahrnehmung. Ich hätte nicht mehr verlangen können. Ich glaube auch, dass der Wald mich wahrgenommen hat; jedenfalls hatte ich einen kurzen Moment lang diesen Eindruck. Als ob er mich aufgenommen habe. So wie der Tiger, der sich auf Sumatra jeden Abend dem Bergsteiger und Abenteurer Walter Bonatti näherte – ohne je weiter heran zu rücken, ohne jene immaginäre Grenze zu überschreiten, weil er Bonattis friedliche, vorübergehende Präsenz anerkannte. Menschen und Tiere sind vielleicht einfach so – sich ihres eigenen Wesens bewusst.

michil costa