bitte fasse es nicht als Respektlosigkeit auf, wenn ich mir erlaube, dich zu duzen. Wir kennen uns seit Jahren, und ich glaube, es ist in Ordnung, wenn ich Arno zu dir sage. Also, lieber Arno, der Punkt ist: Ich bin traurig. Und das Schlimme daran ist, dass du derjenige bist, der mich traurig macht. Ich bin traurig, nicht wütend, denn wütend ist man nur wegen etwas, an dem man wirklich hängt. An dir und an deiner Partei aber hänge ich gar nicht mehr. Das war durchaus einmal anders, denn früher habe ich an dich geglaubt. Als Barack Obama zum Präsidenten gewählt wurde, habe ich vor Glück geweint, und als du Landeshauptmann wurdest, ging es mir ehrlich gesagt nicht viel anders. Nicht, dass wir uns hier falsch verstehen; Obama hat sich letztlich nicht unbedingt als der große Messias erwiesen. Aber du, Arno, was ist aus dir geworden?
Ich bin es einfach leid, Arno. Nicht, was die Pandemie betrifft, die wird vorübergehen. Ich bin deine Mannschaft leid. Ein bisschen wird aufgesperrt, damit nicht zu viel Geld verloren geht; ein bisschen wird zugesperrt, damit nicht so viel gestorben wird. An Silvester wurde in den Hütten ordentlich gefeiert, und das Virus rieb sich die Hände. Auch jetzt läuft dem Virus schon wieder das Wasser im Mund zusammen, wenn es sieht, wie sie es in Meran mit dem Aufsperren gar nicht mehr erwarten können. Wir Tiroler waren ja schon immer besonders. So besonders, dass wir eigentlich auch ein besonderes Gesundheitswesen haben müssten. Doch das hatte offenbar nie Priorität, und dafür ist ganz eindeutig dein Vorgänger mit verantwortlich.
Den Landesrat für Tourismus mag ich, doch er ist der falsche Mann auf diesem Posten. Bettenstopp ja oder nein? Seine Antwort: ein bisschen ja, ein bisschen nein. Und warum berechnen wir nicht endlich mal den CO2-Ausstoß der Touristen, der Urlaubsgebiete, der einzelnen Unterkünfte? Und wenden den Grundsatz an, dass der, der mehr ausstößt, auch mehr bezahlt? Doch alles, was den Präsidenten der Hoteliers interessiert, ist die Gewinnmaximierung seiner Mitglieder; er steckt völlig fest in seiner egoistischen, beschränkten Sicht auf die Welt. Jeder kämpft für sich allein; demnächst werden wir wieder zur Keule greifen. Weil wir Barbaren sind, weil keiner die Sprache des anderen versteht, weil jeder nur an sich denkt. Wir haben nicht nur eine deutsche und eine italienische Kultur; wir könnten ja auch die Fußballplätze nach Italienern, Deutschen, Ladinern und dem Rest der Welt trennen, damit es dort keine Verständigungsschwierigkeiten gibt. Was hältst du davon? Aber Kultur ist ja nicht systemrelevant und kostet nur; der geben wir besser kein zu großes Gewicht. Dabei produziert Kultur sehr wohl einen Mehrwert, und zwar auch ökonomisch. Er ist nur nicht unmittelbar greifbar. Das sollte ihr doch wissen. Und es sollte euch vor allem zu denken geben.
Auch andere deiner Weggefährten deprimieren mich. Zum Beispiel die, die uns die sattsam bekannten tristen Ergebnisse in Sachen Baugesetzgebung beschert haben. Wo wir schon von deiner Partei sprechen: Euer Europaabgeordnete mit seiner entwaffnenden strategischen Blindheit schafft es ganz mühelos unter die Top Five der schlimmsten Politiker. Dann wäre da auch noch die Partei der Baulöwen. Die, die sich auf die Ausgangssperre um 23 Uhr versteifen. Die, die allergisch auf die Idee eines Gesetzes gegen Homo- und Transphobie reagieren. Die, die zum Glück in unserer Provinz mit in deiner Regierung sitzen, ohne je etwas zu sagen zu haben. Von der Senatorin Julia Unterberger dagegen könntet ihr wirklich noch etwas lernen. Respekt für die Mitmenschen. Respekt für die Schwächeren. Für die Frauen. Aber vielleicht ist es ja gar nicht fehlender Wille bei euch. Vielleicht müsst auch ihr euch unvermeidlichen politischen Spielchen unterordnen. Und nachdem weder Hausfrauen noch Schüler eine Interessensvertretung besitzen, sind sie euch halt auch nicht so wichtig.
Ich würde dich gerne als Leader sehen, doch leider wirst auch du von den Geschäftemachern gesteuert. Eure Politik hat alle wahren Inhalte aufgegeben und beschäftigt sich nur noch damit, die Interessen der Wirtschaft zu bedienen, große Hoteliers und Turbo-Landwirte an erster Stelle. Und apropos Geld: Weißt du eigentlich, dass viele unserer Mitarbeiter ihr Leben an einem bestimmten Gehalt ausgerichtet haben und jetzt in großen Schwierigkeiten stecken? Und wie können wir Unternehmer ihnen dabei helfen, wenn uns einerseits die Banken zwar die Möglichkeit geben, unsere Kredite zu verhandeln, gleichzeitig aber unser Rating verschlechtern? Das führt dazu, dass wir höhere Zinsen zahlen müssen und nur unter Schwierigkeiten neue Kredite bekommen können. Ihr wollt aufs Gas treten, stimmt’s? Weil ihr uns die Möglichkeit dazu gegeben habt, haben wir gebaut. Zuviel gebaut. Jetzt haben wir Probleme. Aber sollte gute Politik nicht ein Licht sein, das durch die Dunkelheit führt? Sollte sie nicht klare Regeln vorgeben und Grenzen ziehen?
Hast du eigentlich mitbekommen, lieber Arno, dass der Mailänder Bürgermeister Sala jetzt bei der Europäischen Grünen Partei ist? Und dass die nächste deutsche Bundeskanzlerin ebenfalls eine Grüne sein könnte? Du hingegen behandelst die Grünen gönnerhaft, ziehst sie nicht wirklich in Betracht. Erst tut ihr so, als wolltet ihr einen Dialog mit der Opposition, aber dann geht’s doch wieder nur darum, die alten Forderungen der Wirtschaft zu erfüllen, die aus dem Schrank geholt, mal kurz abgestaubt und direkt an die Draghi-Regierung weitergereicht werden, ohne dass der Landtag involviert würde. Abgeordnete werden so wie Schulkinder behandelt.
Ihr solltet euch die Frage stellen, ob eure Pläne und Projekte wirklich noch einer Strategie folgen oder nur die Überreste einer früheren, rein konsumorientierten Epoche sind. Ob es sich um zeitgemäße Modelle handelt oder nicht, und ob sie dann nicht mal grundsätzlich neu ausgerichtet werden sollten. Wir alle müssen an einer neuen Perspektive arbeiten, müssen verstehen, was unsere echten Bedürfnisse sind. Eine Rückkehr zu unserem früheren Leben, in dem es einzig und allein nur um den Kommerz ging, ist nicht wünschenswert. Doch ich kann keinerlei Anzeichen für eine Trendwende erkennen bei uns. Ihr stellt euch ja nicht einmal kritische Fragen. Kommt nicht einmal auf die Idee, dass Zweifel oft angebracht und etwas Positives sein können. Ihr könnt euch doch nicht neuen Erkenntnissen oder Sichtweisen verschließen, wenn sich um euch herum alles ändert, wirklich alles – bis auf euch, die ihr versteinert und verknöchert in eurem Elfenbeinturm sitzen bleibt, unser Leben und Überleben in der Hand habt und darüber fragwürdige und übereilte Entscheidungen trefft. Ich habe gelesen, ihr wollt 77 Millionen Euro für eine Markenkampagne ausgeben? Bitte sag mir, dass das ein Scherz ist.
Wirklich gar kein Scherz war der Artikel, den die Süddeutsche Zeitung neulich über unser geliebtes Südtirol geschrieben hat. Den hast du bestimmt gelesen, Arno, richtig? In diesem Artikel kommen wir nicht besonders gut weg. Einige unserer Stammgäste haben uns deswegen angerufen; sie waren stinkwütend. Es hat keinen Sinn, jetzt Millionen Euro ins Marketing zu investieren.
Was hältst du davon, wenn wir stattdessen mal versuchen, offen und ehrlich zu uns selbst zu sein? Ein gewisser Alex Langer hat uns das in grauer Vorzeit einmal nahegelegt. Oder auch Arthur Conan Doyle, der gesagt hat, dass nur die Mittelmäßigkeit nichts Höheres als sich selbst kennt. Ich erwarte mir von Südtirol eine besondere Politik, keine mittelmäßige. Eine Politik, die begreift, dass das Expansionsmodell gescheitert ist, dass wir ohne Programme zum Schutz der Artenvielfalt und ohne nachhaltige Landwirtschaft den Karren definitiv gegen die Wand fahren werden. Was hältst du davon, lieber Arno, solche Unternehmen zu fördern, die eine Bilanz der Gemeinwohlökonomie erstellen und damit zeigen, was für Werte ihnen wichtig sind – soziale Gerechtigkeit, Solidarität, echtes nachhaltiges Wirtschaften und nicht nur greenwashing?
Keine Errungenschaft in der Zivilisation ist jemals definitiv; die Geschichte wird ihr Urteil sprechen, und vermutlich wird es nicht besonders positiv ausfallen für jemanden, der auf vergiftete Äpfel und getrennte Schulen gesetzt hat. Die kommenden Generationen, die mit Visionen der besten aller möglichen Welten aufgewachsen sind, werden schnell begreifen, dass unser grenzenloser Individualismus reine Illusion war, dass er selbstzerstörerisch und alles andere als vorausschauend war. Wie Papst Franziskus gesagt hat: Schlimmer als diese Krise wäre nur, sie zu vergeuden. Und ihr vergeudet sie, Arno. Ich bin deshalb gar nicht mehr wütend, Arno, ich habe nur einfach echt genug von euch. Aber meine Meinung zählt nicht, weshalb ich nur eine Bitte äußern möchte: Für all die jungen Menschen, und für die Zukunft, und in der Hoffnung, dass wir bald eine Landeshauptfrau haben werden: Schlagt einen neuen Weg ein. Giulan. Danke. Grazie.
Einen Gruß aus den Dolomiten.