Wut. Schreie. Verzweifeltes Weinen. Doch wenn man mitten in finsterster Armut steckt, nützen auch Schreie nichts. Es hört dich eh keiner. Du wirst erdrückt, unterjocht, zu Boden getreten. Du bist ein schwarzer Wurm, der sich im Dreck ringelt. Du lebst in Schmutzhütten, wo der Freund des Hauses die Bekannte vergewaltigt, der Onkel die Nichte, der betrunkene Vater seine Töchter. Eine sprachlose, dumpfe, verzweifelte Gewalt herrscht hier. Eine schlammige Gewalt, die nach Sumpf schmeckt, denn hier am Mississippi scheint es sonst nichts zu geben. Alles ist ein einziger schmieriger und schlüpfriger Sumpf. Pechschwarz. Und Alligatoren gibt es, die auch, denn ja, schlimmer kann es immer noch kommen.
Down to the Mississippi. Eine finstere Elendshütte in ärmster Umgebung. Ganz, ganz unten wird Muddy groß, ohne Mutter und Vater. Seine Großmutter zieht ihn auf. Sie gibt ihm seinen Namen, inspiriert vom schlammigen Wasser. Dem Wasser, das langsam wie ein Blues vorbeiquillt. Delta Blues. Der kleine Junge wird größer, die Tage ziehen vorbei so glitschig, eintönig und trübe wie das Gewässer, an dem er aufwächst. Ein Leben im Treibsand. Nichts wie weg hier, so weit wie möglich. Und so bald wie möglich.
Der kleine Muddy wächst unter anderen „Niggern“ heran. Er pflückt Baumwolle für die Weißen. „In Armut geboren, in Armut gestorben“, summen die Insekten, die ihn in die verschwitzte Haut stechen. Doch Muddy will davon nichts wissen. Er hat große Pläne. Er fühlt sich als Künstler und will nicht wie die verzweifelten Sklaven enden, die ihr Talent nicht ausleben konnten, nur träumen. Muddy hat den Rhythmus der Musik im Blut. Und so treibt er ein bisschen Geld zusammen und kauft sich eine Gitarre. So beginnt die Geschichte des Mannes, der zum Vater des Chicago-Blues werden sollte.
Muddy spielt auf der Straße, zwischen den Baracken. Seine Stimme ist intensiv und traurig. Denn Muddy leidet, seine junge Braut ist ihm weggelaufen. Muddy möchte einen Sohn. Und er bekommt ihn. Doch nicht von seiner Braut, sondern von einer weiteren Elendstochter der Armutssiedlungen in den Plantagen. Tragödien über Tragödien.
Schließlich verlässt Muddy die Baumwollfelder und auch seine dritte Ehefrau. Sein Ziel ist die große Welt da draußen, die Lichter und die Musik von Chicago. Er hat nur Musik im Kopf, und auch wenn er es noch nicht weiß: Die Welt wartet auf ihn. Seine Akustikgitarre erweist sich als zu schwach, um sich im Lärm der verrauchten Kneipen und Clubs zu behaupten – er tauscht sie gegen eine elektrische um. Eine praktische Entscheidung, keine künstlerisch motivierte. Und so entsteht eine Band, die richtig Lärm macht. Die eine neue Musik hervorbringt – hart und sauber. Es ist eine Musik, die von Buddys Sklavenjahren erzählt. Eine Musik, die die Wahrheit erzählt, und zwar allen, und in einem höllischen Rhythmus. Es ist Blues, der zu Rock’n’Roll wird. Muddy macht sich auf den Weg nach England, doch dort erweist sich seine Musik als zu rebellisch für ein Publikum, das an sanfte Sounds und zuckersüße Texte gewöhnt ist. Muddy kommt aus einer anderen Welt, und für die sind die noch nicht bereit. Doch dafür zeigen sich seine Künstlerkollegen beeindruckt. Die Rolling Stones, die bösen Buben der Musik, drücken die quälerische Seele des Bluesmans in einem neuen Song aus: „Satisfaction“. Es wird ein Welterfolg. Große Gitarristen wie Eric Clapton und Jimmy Page sehen in Muddy ihren künstlerischen Vater. Auch Jimi Hendrix ist von der Sprengkraft des Bluesmusikers überwältigt: „Seine starke Wirkung erschreckt mich.“ „Doch es mussten noch Jahre vergehen, bis der Großteil der Menschen wirklich verstand, wie großartig er für die Geschichte der amerikanischen Musik war“, sagte später B.B. King.
Die Künstler, die sich von ihm inspirieren ließen, werden alle berühmt und reich. Nur Muddy nicht. Es ist nicht so schlimm. Denn ihn, der die Geschichte der Musik so radikal verändert hat, interessiert nichts anderes als die Musik. Und ohnehin ist es jetzt an der Zeit, nach Hause zurückzukehren, wie es in den landauf, landab in Amerika abgedudelten Blues-Songs immer heißt. Nach Hause, um in der schlammigen Erde von früher zu knien und zufrieden Karotten und Kartoffeln anzubauen. Nach Hause, wo Muddy Waters am 30. April 1983 die ewige Ruhe findet.
An Muddy Waters musste ich beim Tod von Franco Condè denken, einem anderen Mann, der die Musik im Blut hatte. Franco, Muddy, Frank, Jimy: Gemeinsam haben sie bestimmt da oben Spaß in einer himmlischen Combo. Und sorgen dafür, dass wir hier unten immer noch Spaß an ihrer Musik haben. Danke, „Schlammiges Wasser“, dass du uns bis heute in deinen Bann ziehst. Danke, Muddy Waters, und danke, Franco Condè – dass es euch gegeben hat, ist vielleicht die größte „Satisfaction“. Möge euch ewiger Ruhm sicher sein.
Michil Costa